Literaturnobelpreis 1902: Theodor Mommsen

Literaturnobelpreis 1902: Theodor Mommsen
Literaturnobelpreis 1902: Theodor Mommsen
 
Der deutsche Historiker erhielt den Literaturnobelpreis für seine »Römische Geschichte«.
 
 
Theodor Mommsen, * Garding (Schleswig) 30. 11. 1817, ✝ Charlottenburg 1. 11. 1903; 1848 außerordentlicher Professor für Römisches Recht in Leipzig, 1852 Professor für Römisches Recht in Zürich, 1854 Professor für Alte Geschichte in Breslau, 1858 Professor für Alte Geschichte in Berlin, 1863-66 und 1873-79 als Nationalliberaler im Preußischen Abgeordnetenhaus, 1881-84 Abgeordneter im Deutschen Reichstag.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Im Jahr 1849 hielt der 32-jährige Gelehrte Theodor Mommsen, damals außerordentlicher Professor für Römisches Recht an der Universität Leipzig, einen Vortrag über die späte römische Republik. Unter den Hörern waren die Verleger Karl Reimer und Salomon Hirzel. Sie unterbreiteten ihm das Angebot, eine römische Geschichte zu schreiben. Theodor Mommsen war 84 Jahre alt, als er für dieses Werk mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Damals war seine »Römische Geschichte« bereits ein Klassiker. In schneller Folge waren 1854, 1855 und 1856 die ersten drei Bände erschienen. Sie umfassten die Geschichte des antiken Roms von den Anfängen über die Eroberung der Mittelmeerwelt bis in die bewegte Zeit des Diktators Julius Caesar (46 v. Chr.). Danach trat eine lange Pause ein. Der allseits erwartete vierte Band zur Kaiserzeit blieb aus. Stattdessen legte Mommsen 1885 den fünften Band mit der Geschichte der römischen Provinzen vor. Da der vierte Band nie publiziert wurde, ist die bis heute einflussreichste und fesselndste Darstellung der Geschichte Roms ein Torso geblieben.
 
 Junker und Fabrikanten im alten Rom
 
Was Mommsen dem Publikum präsentierte, stellte alles in den Schatten, was bis dahin zur römischen Geschichte geschrieben worden war. Kein Forscher vor ihm hatte die Antike so plastisch und anschaulich gezeichnet. Gleichermaßen faszinierend für das breitere Publikum wie irritierend für viele Fachkollegen war die rigorose Modernität des Werkes. Mommsen zeigte keine Scheu, Begriffe und Kategorien der eigenen Zeit auf das alte Rom zu übertragen. Von Bürgermeistern ist ebenso die Rede wie von Junkern, Parteien, Kapitalisten und Fabrikanten. Diese Vorgehensweise entsprach einem von ihm 1854 selbst formulierten, berühmt gewordenen Credo, das sich gegen eine trockene, heroisierende Sicht der Antike wandte: »Es gilt doch vor allem, die Alten herabsteigen zu machen von dem phantastischen Kothurn [hoher Theaterstiefel, wie ihn die antiken Schauspieler benutzten], auf dem sie der Masse des Publikums erscheinen, sie in die reale Welt, wo gehasst und geliebt, gesägt und gezimmert, phantasiert und geschwindelt wird, den Lesern zu versetzen.«
 
Zur Frische und Dynamik der Darstellung trug auch bei, dass Mommsen seine politischen Überzeugungen in die »Römische Geschichte« projizierte. Dieses nach heutigen Maßstäben fragwürdige Vorgehen entsprach Mommsens Grundüberzeugung, dass Geschichtsschreibung politische Pädagogik im Dienst nationalliberaler Propaganda sei. Die »sittlich-politische Tendenz« bedeutete Mommsen mehr als der wissenschaftliche Wert.
 
 Von revolutionärem Geist geprägt
 
Deutlich spürbar ist in der »Römischen Geschichte« der Geist der deutschen Revolution von 1848. Nachdrücklich unterstützte der junge Mommsen die Ziele der liberalen Bewegung. Dadurch geriet er in Konflikt mit der sächsischen Regierung und wurde aus dem Staatsdienst entlassen. Die ersten drei Bände vollendete er in Zürich und Breslau, wohin er nach seiner Entlassung berufen worden war. Mommsens höchstes Ideal war, neben der Garantie der individuellen Grundrechte, die Einheit des Nationalstaats. Vor diesem Hintergrund interpretierte er die römische Geschichte auch nicht als die Geschichte der Stadt Rom, sondern als die Geschichte Italiens. So heißt es in der Einleitung: »Wenn auch nach formalem Staatsrecht die Stadtgemeinde von Rom es war, die die Herrschaft über Italien, dann über die Welt gewann, so lässt sich doch dies im höheren geschichtlichen Sinne keineswegs behaupten und erscheint das, was man die Bezwingung Italiens durch die Römer zu nennen gewohnt ist, vielmehr als die Einigung zu einem Staate des gesamten Stammes der Italiker, von denen die Römer wohl der gewaltigste, aber doch nur ein Zweig sind.« Der zeitgebundene liberale Gedanke von der Wahrung der persönlichen Freiheit fand in der »Römischen Geschichte« seinen Niederschlag in der idealistischen Preisung einer Gesellschaft der klassischen Republik, die angeblich für alle die gleichen Chancen bot.
 
Zu den leidenschaftlichsten Passagen der »Römischen Geschichte« gehört die Darstellung des Untergangs der Republik. In höchst eigenwilliger Weise charakterisierte Mommsen das innere Chaos und die Bürgerkriege als Kampf zwischen Kapital und Arbeit, aus dem der für Mommsen so bedeutsame Mittelstand wegen der Ausbreitung der Sklavenwirtschaft als Verlierer hervorging. Als strahlende Persönlichkeit in all dem Chaos sah Mommsen Julius Caesar, für dessen geradezu hymnische Überhöhung er seine gesamte Sprachgewalt bemühte und dessen Diktatur er beschönigend als »die Vertretung der Nation durch ihren höchsten und unumschränkten Vertrauensmann« bezeichnete.
 
 Skeptische Historikerkollegen
 
Viele Fachkollegen standen einer solch fulminanten Darstellung der römischen Geschichte reserviert gegenüber. Aber auch sie mussten zugeben, dass die wissenschaftliche Seriosität des Werks außer Frage stand. Die Darstellung basierte auf einem gründlichen Quellenstudium, insbesondere auch auf einer intensiven Berücksichtigung der damals noch in den Anfängen steckenden Inschriftenkunde. Der Erfolg der »Römischen Geschichte« war überwältigend. Die ersten drei Bände erreichten hohe Auflagen und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
 
Ein Rätsel bleibt bis heute, warum Mommsen den vierten Band mit der Geschichte der römischen Kaiserzeit nicht geschrieben hat. Vielleicht fürchtete er, an einem inhaltlich ganz anders gearteten Gegenstand als die römische Republik die hohen Erwartungen nicht erfüllen zu können. Möglicherweise fehlte ihm nun auch die Leidenschaft, die seiner Aussage nach für Geschichtsschreibung unbedingt notwendig war. So befasste sich der weltweit berühmte, seit 1858 in Berlin tätige Historiker mit Großprojekten wie der Sammlung der lateinischen Inschriften, und er widmete sich seiner Aufgabe als Abgeordneter der Nationalliberalen in Preußen und im Deutschen Reichstag. 1885 erschien dann der fünfte Band der »Römischen Geschichte« über die Provinzen des Imperium Romanum — lediglich eine gediegene Forschungsleistung. Diesen politisch bewegten, engagierten Mommsen der 1848er-Zeit und weniger den abgeklärten Forscher der Bismarckzeit hatte das Nobelpreiskomitee im Sinn, als es 1902 den Verfasser der »Römischen Geschichte«, ein Jahr vor seinem Tod, als bisher einzigem Historiker den Nobelpreis für Literatur verlieh. Und wenn man heute in Fachkreisen die Geschichte des alten Roms in mancher Hinsicht anders beurteilt als Mommsen, so hat das Werk doch nach wie vor einen festen Platz in der historischen Weltliteratur.
 
H. Sonnabend

Universal-Lexikon. 2012.

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